Kriens ist nicht überall | Eine Hommage an das Museum im Bellpark Kriens
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Zeichnen. Eine Konfiguration | Hilar Stadler (Hrsg.)

Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Museum im Bellpark Kriens, 2003

Kriens 2003



Anruf von einem gewissen Hilar Stadler aus der Schweiz. Er sagt, er habe in der Neuen Züricher Zeitung von den SONDERMODELLEN gelesen, die ich zusammen mit Oliver Croy in Wien präsentiere. Ob wir die Modelle nicht auch in Kriens zeigen möchten, es würde gut zum Programm des dortigen Museums passen. Nein, Webseite gäbe es noch keine, er schicke mir zur Orientierung mal ein paar Publikationen der vergangenen Ausstellungen zu.

Einige Tage später sind die Broschüren da. "Waldhüttenbilder - Kinderhüttentext", "Die erste Autobahn der Schweiz" und "Lucerne South, Byway-Center Nidfeld": Liebhaberei in allen drei Fällen. So, wie ein Liebhaber immer ein wenig blind ist, weil er seine Aufmerksamkeit voll aufs Ziel seines Begehrens richtet, so muss hier jemand ins Material seiner Ausstellung verliebt gewesen sein. Und damit auch die Grafiker angesteckt haben. Das Wald- und Kinderhüttenheft ist ein derart eigenwilliges, vertracktes Falt- und Verwirrobjekt, dass die Fotos der halblegalen Waldhütten später noch einmal zwischen konventionelle Buchdeckel gepackt werden mussten, um das Publikum im Buchhandel erreichen zu können.

Auf nach Kriens also. Die Anreise erfolgt über die Autobahn, denn wir haben 387 Modelle zu transportieren und wollen uns der Agglo stilecht annähern. Ankunft kurz vor Mitternacht an der Laderampe auf der Rückseite des Coop-Marktes, der für die SONDERMODELLE als temporärer Ausstellungsraum zur Verfügung steht. Das Museum mit den Resten der "Berge Berge Berge"-Ausstellung betreten wir erst am nächsten Tag. Weit weniger beeindruckend als die 400-Quadratmeter-Halle des Coop, scheint es aber ein guter Platz zu sein, um über Straßen und Berge hinweg zu sehen. Die Fabrikantenvilla im Bellpark ist durch unsichtbare Achsen mit der Welt verbunden. "Kriens-Kairo" hieß die Ausstellung über den Architekten des Hauses, Emil Vogt, der um 1900 vor allem im Hotelbau international gefragt war. Sein "King David" - Hotel in Jerusalem schrieb Weltgeschichte, als dort 1946 ein Anschlag auf die britische Militärregierung in Palästina verübt wurde.

"Kriens-Las Vegas" hätte eine weitere Achse werden können. Eigentlich ist sie ja längst vorhanden: Einer der Paten des Museums ist, obwohl keine Namenstafel ihn erwähnt, der amerikanische Architekt Robert Venturi. Sein Buch "Learning from Las Vegas" sowie die Feststellung, "main street" sei "almost alright" bilden die Glaubensgrundlage jener Alltagsforschung, wie sie auch vom Museum im Bellpark gepflegt wird. Ohne Venturi im Gepäck ist der Weg von Luzern nach Kriens kein Vergnügen. Daher war es ein konsequenter, aber auch mutiger Schritt, eines Tages bei Venturi wegen eines Erweiterungsbaus für das Museum anzuklopfen. Ein Treffen mit ihm und seiner Partnerin Denise Scott Brown fand in Zürich statt. Dabei soll Venturi erzählt haben, dass sie auch in einem Haus von 1910 wohnen und dass dies überhaupt der beste Architekturjahrgang sei. Leider scheiterte das Experiment, den Meister der "grauen Architektur" ins seit jeher graue Kriens zu holen, am mangelnden Budget. Kriens schaut weiter auf die Welt, nicht umgekehrt.

Ein in diesem Zusammenhang symptomatisches Detail, das allerdings mit dem Museum in gar keinem Zusammenhang steht, findet sich in einem über dem Coop-Markt gelegenen Appartment. Durch einen Zufall in ein Wohnzimmer geraten, stossen wir dort auf das an die Wand geschraubte Heckteil eines amerikanischen Straßenkreuzers. Unter der Kofferraumklappe verbirgt sich die Hausbar. Trotzdem fällt es schwer, sich vorzustellen, dass die Bewohnerin eines Tages auf das Ausstellungsteam von "Lucerne South, Byway-Center Nidfeld" trifft und man sich auf Anhieb prächtig versteht.

Hängt alles vielleicht mit dem Pilatus zusammen? Bei "Berge Berge Berge" ist eine Karte zu sehen, die Vermessungsingenieure der ETH Zürich mit Hilfe eines vollplastischen Computermodells der Schweiz angefertigt haben. Die Karte zeigt den immens großen "Einzugsbereich" des Berges. All jene Stellen der Region sind markiert, von denen aus bei idealen Bedingungen Sichtkontakt zum Luzerner Hausberg besteht, gutes Wetter und ein gewisses Interesse also vorausgesetzt. Ich habe die Karte damals mit einer gewissen Ratlosigkeit angeschaut, jetzt ahne ich, dass man sie nur andersherum zu lesen braucht, um zu verstehen. Wohin kann man von hier aus blicken?, so lautet in Wahrheit die Frage, die sich das Museum immer wieder stellt. Was sieht jemand, der in Kriens auf einen Gipfel führe, in ein amerikanisches Auto steigen würde oder in Archiven kramte?

In der Zeitschrift "Der Alltag" gab es einmal eine wunderbare Fotoserie, die aus lauter Bildvergleichen bestand(1). Auf der einen Seite war jeweils ein Bild von New York zu sehen, auf der anderen Seite eines, das in Gerlafingen, einem schweizer Dorf aufgenommen wurde. Die Fotografen Franz Gloor und Roland Schneider hatten versucht, in beiden Städten die selben Motive zu finden. Über New York ist auf den Bildern kaum neues zu erfahren, sie zeigen Ansichten, die bereits tausendfach abfotografiert wurden. Auch die Bilder aus Gerlafingen sind für sich genommen unspektakulär, auch hier meint man die Motive bereits zu kennen, in diesem Falle eher aus der eigenen unmittelbaren Erfahrung. Stoßen die Bilder aber auf der Doppelseite einer Zeitschrift zusammen, entsteht etwas kostbares, etwas, für das ich in einem Antiquariat soviel Geld ausgeben würde wie für die Seilbahn, die einen auf den Pilatus hinaufbringt.

Kriens, darin gleicht es Gerlafingen und Schwamendingen, ist eine Fiktion. Der Ort entsteht aus Geschichten, die in der Villa im Bellpark allmählich gesammelt werden. Es scheinen oft Geschichten zu sein, die nur hier und nur von bestimmten Personen erzählt werden können. Kriens ist nicht überall, leider. Oliver Elser


(1) Der Alltag - Sensationsblatt des Gewöhnlichen, 5.Jg., H.5 (1982). Im selben Heft findet sich auch das in einigen Kreisen legendäre Portrait des Ortes Schwamendingen, "Heimat" des Mit-Herausgebers Nikolaus Wyss, mit dem die Agglo-Faszination ihren Anfang genommen haben dürfte: "Schwamendingen ist durchschnittlich, so dass es möglichst schnell durchfahren wird. Guckt man allerdings genauer hin, wird alles anders; nein, nicht anders, aber das Urteil verändert sich." Die Beschäftigungen mit Orten diesen sei eine Herausforderung, heißt es weiter, denn: "Schließlich ist Schwamendingen überall, genauso wie Alltag alles durchdringt."

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